Legal Tech in Russland

12/05/2022


Die Größe eines lokalen Legal-Tech-Marktes ist abhängig vom Umfang des Marktes für Rechtsdienstleistungen. Wie bei den meisten Markterhebungen sind Zahlen zum Rechts- und Legal-Tech-Markt in Russland immer als «educated guess» zu behandeln. Ein Teil der Einnahmen wird nicht statistisch erfasst, ein Teil wird falsch klassifiziert, was zu Über- oder Untererfassung führen kann. Die für das Jahr 2020 verfügbaren Zahlen zeichnen einen Umsatz der gesamten Rechtsbranche in Höhe von ca. 222 Milliarden Rubel (etwa 2,45 Mrd. Euro), wovon 63% auf das B2C- und 37% auf das B2B-Segment entfielen.

Der russische Rechtsmarkt ist erstaunlich liberal reguliert. Mit Ausnahme von Strafverfahren reicht für die gerichtliche Vertretung eines Mandanten der Nachweis eines abgeschlossenen Jurastudiums. Rechtsberatung kann theoretisch jeder anbieten. Das in Deutschland geltende Fremdbesitzverbot gibt es so in Russland nicht, was für Legal-Tech-Startups vorteilhaft ist, die keinerlei Restriktionen unterliegen. Einige Banken und sogar ein Mobilfunkbetreiber bieten z.B. Vertragsgeneratoren für Kunden an.

Drei Etappen der Legal-Tech-Evolution

Legal Tech an sich ist keine neue Erscheinung für den russischen Markt. In 2021 haben die zwei großen Anbieter von Rechtsdatenbanken, die über 90% des Marktes unter sich aufteilen, ihr 30-jähriges Jubiläum gefeiert. Die 90-er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind die Dekade des Durchbruchs von elektronischen Legal Research-Produkten, entstanden aus der Notwendigkeit, dem Verbraucher schneller Zugriff auf sich extrem oft ändernde Gesetze zu gewähren, als das Printprodukte können. Die russische Tochter von C.H. Beck hat seinerseits versucht, eine lokale Variante des „Schönfelder“ in den Markt zu bringen. Meist war die Hälfte der Ergänzungslieferung bereits veraltet, bevor sie den Kunden per Postweg erreichte. Die zweite Etappe begann Anfang der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, als die ersten Kanzlei- und Dokumentenmanagement-Produkte auf den Markt kamen. Meist waren das auf die speziellen Bedürfnisse von Anwälten adaptierte generelle CRM- oder Dokumentenmanagement-Softwarelösungen. Der Verbreitungsgrad war entsprechend gering, nur wenige Trailblazer testeten die Automatisierung ihrer Prozesse. Die dritte Etappe begann nach der globalen Finanzkrise, als der allgemeine Trend zu Kostenersparnis und Steigerung der Effizienz in Rechtsabteilungen und Kanzleien mit der Entstehung einer staatlich geschaffenen digitalen Infrastruktur der kommerziellen Gerichte zusammenfiel. Vor diesen „Arbitrazh-Gerichte“ genannten Gerichten (nicht mit Schiedsgerichten zu verwechseln) werden in Russland Wirtschaftsstreitfälle verhandelt. In 2009 startete die Entwicklung einer digitalen Plattform „KAD Arbitr“, die heute als eine der modernsten Plattformen für Gerichte in der Welt gilt. Über KAD Arbitr können Klagen elektronisch eingereicht (dies wird inzwischen von über 40% der Kläger genutzt) und Informationen zu Fällen online und kostenlos abgerufen werden, inklusive der Entscheidungen, die üblicherweise innerhalb von 24 Stunden nach Urteilsverkündung im System veröffentlicht werden. Allgemeine Daten über jede in Russland registrierte Gesellschaft können online im Einheitlichen Staatlichen Register juristischer Personen (das russische Handelsregister) abgefragt werden.

Inzwischen gibt es ein entsprechendes System für Zivilgerichte, „GAS Pravosudie“ genannt. Über die E-Government-Plattform „Gosuslugi“, bei der über 100 Millionen Bürger registriert sind, können Zivilklagen elektronisch eingereicht werden und Urteile eingesehen werden.

Aufbauend auf dieser Infrastruktur entwickelte sich eine Legal-Tech-Industrie, die über 100 verschiedene Lösungen anbietet. Eine Übersicht bietet die von PwC und Infotropic Media erstellte «Russian Legaltech Map». Diese reichen von Practice- und Case-Management über IP- und Knowledge Management bis hin zu Plattformen zur Automatisierung der Justiz. Auch B2C-Plattformen im Consumer Rights Segment und in der Vermittlung anwaltlicher Hilfe bzw. zur selbständigen Lösung rechtlicher Probleme waren bis vor Kurzem im Aufschwung. Ausländische Anbieter spielen nur eine untergeordnete Rolle im russischen Legal-Tech-Markt. Der französische Dokumentengenerator Wonder.Legal bietet seine Leistungen seit einigen Jahren im russischen Markt an. Die FTS Group vertreibt über eine lokale Tochter ihr Produkt FTS Law Solution. Die größte Präsenz eines ausländischen Anbieters hat Thomson Reuters. Alle ausländischen Anbieter haben bislang aber wenig Erfolg, was in erster Linie mit hohen Preisen, fehlendem lokalen Support und dem Umstand, dass alle Produkte oft nur mit einem englischsprachigen Interface angeboten werden, zusammenhängt. Auch fehlt ausländischen Produkten die Integration in russische Infrastruktur-Lösungen wie KAD Arbitr oder in lokale Buchhaltungsdokumentenmanagement- und ERP-Systeme.

Funding

Die Entwicklung von Legal-Tech-Lösungen wird in der Mehrzahl der Fälle von den Gründern, das Wachstum überwiegend durch eigene Umsätze und Gewinne finanziert. In einigen Fällen sind die Gründer Kanzleien oder Rechtsabteilungen, die mit dem Produkt ein eigenes Problem lösen wollten oder eine Marktnische identifizierten. In anderen Fällen stolperten Softwareentwickler, die Unternehmen bei der digitalen Transformation unterstützten, über den Bedarf der Rechtsabteilungen an Automatisierung von Prozessen.

Wie auch international weckte Legal Tech in den letzten Jahren in Russland das Interesse von institutionalen Investoren und einigen Angel Investors. Die größten öffentlich bekannten Deals erfolgten im B2C-Segment.

Hier ist eine Übersicht über die wichtigsten Deals:

  • Verkauf von 33% der B2C-Rechtsberatungsplattform «European Legal Service» an VTB Capital in 2020 (keine Angaben über Summe des Deals)
  • Verkauf von 25% der B2C-Rechtsberatungsplattform «Amulex» an iTech Capital in 2018 (keine Angaben über Summe des Deals)
  • Investment von $1 Million durch AddVenture in 2017 und 60 Millionen Rubel durch AddVenture und Target Global Fintech Fund in 2018 in Pravoved, dem größten russischen Marketplace für Rechtsdienstleistungen
  • Investment von $300.000 in 2020 und $1 Million in 2021 durch eine Gruppe von privaten Investoren in die B2C-Platform Destra
  • Investment von 10 Millionen Rubel für einen Anteil von 8.06% durch Sber in 2020 und 10 Millionen Rubel für einen Anteil von 4,5% durch Angelinvestor Denis Alenin in 2021 in Legium, einen Anbieter von E-Signatures.

Es dürfte aber zu erwarten sein, dass der 24. Februar 2022 eine Zäsur darstellt und der russische Legal-Tech-Markt nunmehr weitestgehend abgeschnitten von internationalen Investitionen ist und jeder Versuch russischer Legal-Tech-Projekte, sich über den russischen Markt hinaus in Europa und/oder USA zu etablieren – zumindest derzeit – zum Scheitern verurteilt ist.

Nutzung vorhandener Technologien

Traditionell sind Rechtsabteilungen die Vorreiter bei der Einführung von Legal Tech, in Russland sogar in stärkerem Maße, als in Europa oder den USA. Dies hängt natürlich in erster Linie mit dem Druck zusammen, Kosten zu senken.

43% der russischen Rechtsabteilungen haben in 2020 ihre Ausgaben gesenkt. Laut dem seit 2015 von PwC durchgeführten «Benchmarking der juristischen Funktion» ist in 2021 die Automatisierung von Geschäftsprozessen in der Rechtsabteilung die Top-Priorität bei 69% der befragten Heads of Legal. 60% gaben an, dass sie in 2020 die Nutzung von LegalTech-Lösungen erweitert hätten. 43% der Rechtsabteilungen haben in 2020 Document Automation Software, 14% BI-Systeme, KYC- u.a. Compliance-Lösungen, und 6% Contract Review Software mit KI und Chatbots eingeführt. Die Dynamik der Nutzung von Legal Tech in russischen Rechtsabteilungen lässt sich am besten am Vergleich eines Parameters über die Jahre erkennen. Beim ersten Benchmarking in 2015 betrug der Anteil der Rechtsabteilungen, die für die Automatisierung nur MS Office einsetzen, 70%. In 2021 waren es nur noch 17%.

Weitaus bescheidener sieht es bei den russischen Kanzleien, insbesondere bei der Anwaltschaft, aus (wie oben erwähnt, muss man nicht zwingend Mitglied der Anwaltskammer sein, um rechtsberatend tätig zu sein). Bei einer Umfrage der «Anwaltszeitung» und der Kanzlei «A2» unter 1799 Anwälten in 2019 gaben nur 6,95% an, eine Case-Management-Software einzusetzen. 6,06% benutzen eine Software zur Dokumentenverwaltung und 4,78% ein Kanzleimanagementpro- gramm. Besser sieht es bei der Nutzung von Rechtsdatenbanken (83,6% der Befragten) und der stattlichen Infrastruktur der Justiz, wie den Systemen KAD Arbiter (Wirtschaftsgerichte) und GAS Pravosudie (Zivilgerichte) aus (28,9% der Befragten). Interessant ist, dass Anwälte durchaus der Meinung sind, dass IT-Lösungen in ihrer Praxis durchaus erforderlich sind. 46,97% sind der Meinung, dass Anwälte ein digitales Dokumentenmanagement benötigen, 45,86% sprechen sich für ein Praxismanagementsystem aus und 24,01% erachten eine Lösung für das Billing für wichtig. Um die Diskrepanz zwischen Wort und Tat zu verringern hat sich die russische Föderale Anwaltskammer in 2019 entschieden, ein sogenanntes «Komplexes Informationssystem für die Anwaltschaft Russlands» (KIS AR) als einheitliche ERP-Plattform für alle Mitglieder der Anwaltskammern zu entwickeln. In 2021 erfolgte der Rollout des ersten Moduls, eines Systems zur automatischen Verteilung von Fällen im Rahmen der staatlich geförderten rechtlichen Vertretung von Angeklagten in Strafsachen. Nach Angaben der Föderalen Anwaltskammer ist dies für 70% der russischen Anwälte außerhalb urbaner Zentren die einzige Einnahmequelle (das durchschnittliche Jahresgehalt eines russischen Anwalts beträgt ca. 8000 Euro).

Ausblick

Man nehme den liberal regulierten russischen Rechtsmarkt, das Fehlen eines Anwaltsmonopols, sowie die Möglichkeit institutioneller Investoren und Wagniskapitalgeber sich mangels Fremdbesitzverbot an Legal-Tech-Startups zu beteiligen, Hand in Hand mit der fortschrittlichen Digitalisierung der russischen Verwaltung und der Gerichte und man hätte grundsätzlich hervorragende Voraussetzungen für einen florierenden und kreativen Legal-Tech-Markt. Dieser würde zunehmend an Bedeutung gewinnen, je wohlhabender eine Gesellschaft wird und je mehr Vertrauen diese in das eigene Rechtssystem hat und diese auch bereit ist, für Rechtsberatung und rechtliche ösungen Geld auszugeben. Mit den Ereignissen vom 24. Februar 2022 und den bei Einreichung dieses Beitrags anhaltenden Kampfhandlungen in der Ukraine muss wohl davon ausgegangen werden, dass auch der Legal-Tech-Markt in Russland die kommenden Jahre im besten Fall stagniert und von internationalen Investments und Märkten abgeschnitten sein wird.

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